Mittwoch, 27. Oktober 2010

Die Mineros müssen zurück in die Mine

Vor dem Regierungspalast La Moneda in Santiago stehen hunderte Menschen in einer Schlange, um sich mit einem Stück Altmetall fotografieren zu lassen. Fenix 2, die Rettungskapsel mit der die 33 Mineros aus ihrem Schacht in San José bei Copiapó gezogen wurden, gastiert in der Hauptstadt. Wer sich für ein paar Stunden anstellt, darf die blau-weiß-rot gefärbte Röhre zwar nicht anfassen und schon gar nicht hineinsteigen – das wissen die umstehenden Carabineros zu verhindern – aber immerhin bis auf wenige Meter heran an die derzeitige Nationalattraktion…


Es gibt nichts, was nicht schon auf täglich 40 Zeitungs-Sonderseiten über die „Los 33“ und ihre spektakuläre Rettung berichtet worden wäre. Ganz Chile weiß, dass Johnny Barrios Rojas seine Frau, die im Minen-Zeltcamp „Esperanza“ 70 Tage auf ihn gewartet hatte, vor dem Unglück betrog und sich nach der Befreiung für seine Geliebte entschied. Oder dass Edison Peña erst mit einer Panikattacke ins Krankenhaus eingeliefert wurde, nur um kurz darauf bei einem Triathlon auf den zweiten Platz zu laufen. Und dass Mario Sepúlveda, der mit einem Beutel Steinen als zweiter aus der Mine gehievt und von den Zeitungen als „Super Mario“ gefeiert wurde, nackt mit offenen Armen zum Baden ins Meer rannte und sich jetzt vor Verzweiflung wieder zurück in die Tiefe sehnt.



Aber wer denkt, dass der „Los 33“-Hype mit der Fenix-2-Ausstellung bereits der Gipfel ist, schaut in die Röhre. Die Mineros kamen natürlich persönlich nach Santiago, um sich von Präsident Sebastian Piñera ihr Miniatur-Exemplar der Rettungskapsel abzuholen. Anschließend traten die Nationalhelden aus der Tiefe bei einem Fußballspiel gegen ein Team aus Rettern und Politikern an. Piñera kannte dabei keine Gnade und schoss selbst das entscheidende Tor zum 3:2-Sieg über die Mineros. Ihm fiel auch gleich die passende Strafe ein: Die "Los 33" müssen wieder zurück in die Mine.

Ob sich Super Mario gefreut hat, ist nicht überliefert.


Sonntag, 24. Oktober 2010

Salsa in der Suppe

“Uno, dos, tres… cinco, seis, siete.” Tanzlehrerin Paulina zählt den Takt, immer und immer wieder. Aus den Boxen der "Maestra Vida"-Bar in Bellavista dröhnt superbster lateinamerikanischer Salsa. Und auf der Tanzfläche stehen rund 20 Pärchen und treten sich gegenseitig superbst auf die Füße.

Salsa für Anfänger - einmal pro Woche bieten ausgewählte Bars in Santiagos Szeneviertel diese Kurse an. Zwar sind die abendlichen Tanz-Events in keinem Lonely Planet zu finden. Trotzdem geben neben jungen Santiaguinos und einigen Möchtegern-Dancefloor-Göttern (männlich, alleinstehend, Ü40, Bauchumfang Ü150) vor allem Touristen die knapp fünf Euro Eintritt aus, um anderthalb Stunden die Grenzen ihrer Rhythmusfähigkeiten aufgezeigt zu bekommen.

Die schmerzenden Füße sind nicht nur kostenlos, sondern meist auch umsonst. Denn das Tempo der Kurse in dem engen, aufgeheizten Raum ist einfach zu schnell. Beim (relativ einfachen) Grundschritt halten fast alle Tanz-Amateure noch mit, die Seitenwechsel und Doppel-Drehungen sind aber das Salsa in der Suppe.

Auch bei uns reicht das vorherige Einstudieren einer sechsminütigen Youtube-Lektion nicht aus, um mit Paulina Schritt zu halten. Das Debakel kann die im Salsatempo spanisch sprechende Tanzlehrerin  nicht länger mit ansehen. Sie kommt rüber, dirigiert uns in Ausgangsstellung und fängt wieder an zu zählen. „Izquiedra, derecha, izquierda… Izquierda, derecha, izquierda.“ (Links, rechts, links)

Als wir erneut aus dem Takt kommen, fange ich an zu fluchen. Auf deutsch. Sie lacht. „Eins, zwei, drei… fünf, sechs, sieben. Am Anfang ist es schwer“, erklärt sie - in astreinem deutsch - und geht dann wieder zu ihrer Vortanz-Position. Unsere Freude ist da längst einer gesalsenen Portion Frust gewichen. Naja, noch haben wir ja vier Monate Zeit, um zu üben…


Mittwoch, 20. Oktober 2010

Gaules Wochenende

Es gibt nur eine Chance, verlieren oder gewinnen. Die Nacht legt sich über Santiagos Parque O´Higgins, als der Startschuss fällt. Im Dunkel der Lichter öffnen sich die Boxen zum 16. Rennen. Auf dem kleinen weißen Zettel in meiner Hand steht „5 Gan 11“. Alles auf Sieg für Nummer 11. Und tatsächlich, Tamona geht mit Bernardo León im Sattel in Führung...


Nachtrennen unter Flutlicht im Club Hipico, Santiagos größter Pferderennbahn. Die klassizistisch-anmutende Tribüne umweht mondänes Flair, doch der Eintritt zu den wöchentlichen Zossen-Events ist frei. Mit pseudo-fachkundigem Blick inspiziert das wettbegeisterte Volk einen Gaul nach dem anderen. Kräftige Hinterläufe, glänzendes Fell, Scheuklappen, Nervosität kurz vor dem Start...? Bei den mitfiebernden Santiaguinos scheint die Anspannung größer als bei den hochgezüchteten Pferden. Ein Volkssport der Städter, ein tierisches Spektakel, diesseits und jenseits der Ränge.





Ein Volkssport auf dem Lande, eine umstrittene Tradition, wird vor den Toren Santiagos gepflegt. Die Sonne glüht über dem Cajón del Maipo, einer Schlucht, die der Rio Maipo in das Gebirge südöstlich der Metropole gegraben hat, als im Örtchen San José die Gauchos ihre Pferde zum samstäglichen Rodeo satteln.













 








Keine Lassos, keine Gnade. Die in traditioneller Tracht galoppierenden Chilenen treiben - anders als beim US-Rodeo - zu zweit einen Bullen nach dem anderen durch die Arena. Zu dutzenden. Nach Punkten. Bis zur Dämmerung. Und als ein erschöpftes Rind von den Beinen geholt wird, jubelt die Menge. Am Ende stehen zwei Sieger fest. Ihnen winkt lokale Ehre: Dorfprinz, für eine Woche.





...im Club Hipico schreit das Publikum Richtung Zielgerade. Tausende Blicke richten sich auf Tamona. Noch immer in Führung, biegt die Stute auf die letzten Meter. 16 Verfolger schnaufen an ihren Hinterläufen – doch als die Ziellinie näher rückt, schwinden allmählich ihre Kräfte. Diese eine Chance, dieser eine Sieg, nicht an diesem Freitag. Im Dunkel der Licher öffne ich meine Hand. Der kleine weiße Zettel ist zerknüllt.

 

Freitag, 15. Oktober 2010

Mendoza - Über die Anden nach Argentinien


Vor 518 Jahren, am 12. Oktober 1492, entdeckte Kolumbus Amerika. Die Latinos feiern den Ur-Kolonisator jedes Jahr am 12. Oktober mit dem „Dia de la Raza“ (Kolumbus-Tag). Der wird auch schon mal auf einen Montag vorverlegt, um in den Genuss eines langen Wochenendes zu kommen. So wie in diesem Jahr. Corinna und ich nutzten die Kurzferien, um ebenfalls eine Neue Welt zu entdecken. Unser Ziel: Mendoza, die Weinhauptstadt Argentiniens.






Mit einem Semi-Cama-Bus (Halb-Schlafwagen) ging es am Samstagmorgen auf die andere Seite der Anden. Und schon die insgesamt 340 Kilometer lange Fahrt über das Hochgebirge allein war die Reise wert. Mühsam quälte sich unser Doppelstock-Bus über eine atemberaubende Passstraße die Serpentinen hinauf, entlang an steilen Felsklippen und schneebedeckten Gipfeln, bis auf über 4000 Meter Höhe. Der Grenzposten Los Libertadores liegt unweit des Aconcagua, dem mit fast 7000 Metern höchsten Gipfel Amerikas. Zwei Stunden Wartezeit und zwei Pass-Stempel später hatten wir zum ersten Mal argentinischen Boden unter den Füßen.


Nachdem uns unser „Andesmar“-Bus in der Abenddämmerung am Busterminal in Mendoza abgesetzt hatte, wartete bei der Ankunft im Hostel „Los Andes“ die erste Ernüchterung. Hausmutter Virginia gab uns zu verstehen, dass ihr keine Online-Reservierung vorliegt und der letzte freie Schlafplatz in ihrer Casa ein eigentlich vom Hund okkupiertes Sofa sei. Sie war jedoch so freundlich, uns in der von Touristen überfüllten Pampa-City ein Ersatz-Hotelzimmer im "La Escondita" zu besorgen – inklusive Balkon, Fernseher und Poolblick. Zum dreifachen Preis, versteht sich...


 

Um das Anden-Hostel-Chaos zu verdauen, gab es an einem Kiosk auf Mendozas Kneipenmeile Villanueva zunächst ein Andes-Bier und danach ein saftiges argentinisches Rindsteak, das seinem delikaten Ruf voll und ganz gerecht wurde und seinen tierischen Ursprung geschmacklich nicht verbergen konnte. Dazu wurde ein 2010er Malbec gereicht. Der fruchtig-rote Argentinier stimmte uns schon mal auf das Highlight unserer Tour ein: eine Rundfahrt über die Weingüter Mendozas.



Die startete morgens bei knapp 30 Grad... Anders als in Santiago ist in der Mendoza das ganze Jahr über Sommer. Die Oasen-Stadt ist deshalb von kleinen Bächen durchzogen, auch die Weingüter in der Maipu-Region werden mit dem ausgeklügelten Bewässerungssystem versorgt. Von der Qualität der guten Tropfen konnten wir uns auf dem Bioweingut Finca Cecchin überzeugen, wo nicht nur die Etiketten noch selbst auf die Flaschen geklebt, sondern auch vorzügliche Weißweine aus der Traube gepresst werden. Mit einer Flasche Moscatel de Alejandria im Gepäck, wurden wir schon in der Olivenölmanufaktur nebenan erwartet. Das versprochene „Glas Öl“ kam dort zwar nicht zur Verkostung, dafür wurden fünf Sorten auf Brotkrumen geträufelt gereicht. Nunja, lecker.



Letzte Station war die Bodega Lopez, die jedes Jahr mehr als 100.000 Liter ihres Traubensafts in alle Welt exportiert. Bei einer Führung durch die riesigen Produktionshallen durften wir zwischen meterhohen Fässern aus französischer Eiche sowohl einen ganz passablen Malbec als auch eine Champagner-Retorte kosten. Einer der mitgereisten Latinos war davon so begeistert – oder betrunken, dass er seine gerade erworbene Weinkiste im Bus einfach fallen ließ.


Mit fruchtigem Bouquet an der Schuhsohle erkundeten wir anschließend die Sehenswürdigkeiten von Mendoza, allen voran die Plaza Independencia im Zentrum der 850.000-Einwohner-Stadt. Der Platz wurde nach einem verheerenden Beben im Jahr 1861 errichtet, um der Bevölkerung als Evakuierungsmöglichkeit zu dienen. Heute ist er vor allem Zufluchtsort für Touristen, die nach einem schattigen Plätzchen suchen, sich eine "Los Andes"-Zeitung kaufen wollen – oder von ihrer Weintour ausnüchtern.


Mehr über die Geschichte des Platzes und die von Mendoza gibt es im Museo del Área Fundacional zu erfahren, das Anfang der 90er über den Ruinen der  Altstadt im nordöstlichen Zentrum errichtet wurde. Davor sprudelt der leuchtende Brunnen auf dem Plaza Pedro del Castillo – eines der Wahrzeichen Mendozas. Das eigentliche Postkartenmotiv thront jedoch hoch oben über der City – das Monument auf dem Cerro de la Gloria blickt aus 980 Metern Höhe in Richtung Anden. Als Krönung des ausgiebigen Nachmittagsspaziergangs durch den Parque San Martin chauffierte uns die lebende Taxi-Jogginghose Luis hinauf bis zum Gipfel. Natürlich nicht ohne uns auf der Strecke die besten Aussichtspunkte zu zeigen – und sich danach stolz vor seinem Wagen in Pose zu werfen.



 



Nach einem großartigen Wochenende führte uns in der Nacht zum Dienstag der Weg zurück über die Anden wieder Richtung Heimat. Versüßt wurde die Rückfahrt im Semi-Cama-Bus durch einen schnarchenden Chilenen hinter uns und ein schreiendes Kleinkind vor uns. Und am Ende der achtstündigen Fahrt ging es für den "City Boy" direkt ins Büro - semi-ausgeschlafen, versteht sich.