Eine greise Dame mit tief zerfurchtem Gesicht sitzt an einem Straßenstand in der Innenstadt von La Paz. Die Hände zusammengefaltet, liegen vor ihr zu einem Haufen übereinander gestapelt getrocknete Lama-Embryonen auf dem Tisch. "30 bis 50 bolivianos pro Stück", sagt sie und setzt zum Kaufgespräch an. Perplex nähere ich mich ihrer kleinen Bude.
Auf dem mercado de hechiceria, dem Hexenmarkt im Zentrum der bolivianischen Hauptstadt, ist die Seniorin nur eine von Dutzenden, die die im Rotlicht schimmernden Reliquien für umgerechnet rund fünf Euro feilbietet. Doch eigentlich nicht für Touristen – die bekommen bei der Ausfuhr der Souvenirs ernsthafte Probleme – sondern für einheimische Häuslebauer. Bei jeder Grundsteinlegung in dem Andenstaat werden die Tierkadaver ins Fundament einbetoniert, um pachamama, die heilige Mutter Erde, zu besänftigen...
~ La Paz: Die Metropole der Kontraste ~
Bolivien, ein Land zwischen Glauben und Aberglauben, zwischen Altiplano-Tradition und lateinamerikanischer Moderne. Die Hauptstadt La Paz, als höchste weltweit weltbekannt, thront mitten im Hochgebirge auf 3600 Metern über dem Meer. Doch die Zwei-Millionen-Metropole, in der die Fußballnationalmannschaft bei Heimspielen wegen der dünnen Luft jeden Gegner wegputzt, raubt uns bei unserer Ankunft an diesem Morgen des 7. Februar nicht nur wegen ihrer Höhe den Atem. Eingekeilt zwischen steil ansteigenden Bergkämmen fällt es schwer, die Dimension dieses fremdartig-mystisch dröhnenden Chaoskessels zu fassen.
Hupende Blechlawinen schieben sich im Zentrum über achtspurige Straßen, Busbegleiter brüllen Straßennamen aus geöffneten Fahrzeugtüren und Polizisten mit Maschinengewehr im Anschlag patrouillieren rund um den Regierungssitz von Präsident Evo Morales. Das Durcheinander in den Straßenschluchten erschlägt uns auf den ersten Blick – bis wir irgendwann auf einer Klippe hoch über den Dächern stehen, nach Luft schnappen und überwältigt in ein Meer aus spröden Lehmhütten und spiegelnden Wolkenkratzern hineinspringen.
Die Kontraste prägen La Paz vielleicht mehr als alles andere. Es heißt, je höher die Menschen hier wohnen, desto weniger Geld haben sie. Innerhalb der Stadt verteilt sich so über 1000 Höhenmeter das gesamte bolivianische Klassensystem. Bizarr: Weit oben in El Alto lebt die einfache bolivianische Bevölkerung, ganz unten hausiert die Oberschicht. In der City prallen alle aufeinander. Die cholita-Frauen in ihrer traditionellen Kluft aus Melonenhut und wallendem Stoffrock. Die Banker, die sich mit Handy am Ohr auf engen Bürgersteigen ellbogenrammend zwischen ihnen vorbeidrängeln. Und die Gasmasken-tragenden lustradores, die für ein paar centavos den geschniegelten Anzugträgern die Schuhe sauber wetzen.
Diese Stadt scheint immer in Bewegung - genausso wie das Wetter hier in der Regenzeit. Während vormittags die Sonne die Luft auf gut 20 Grad erwärmt, ergießen sich am Nachmittag stets sintflutartige Schauer über der Stadt und verwandeln die Straßen in reißende Flüsse. Wir lassen uns treiben – auf unserer einwöchigen Tour quer Bolivien.
~ Sucre: Der Geburtsort der Revolution ~
Von der Hektik in La Paz ist die konstitutionelle Hauptstadt des Landes weit entfernt. 1898 verlor Sucre den Regierungssitz an La Paz, heute atmet die Metropole an jeder Ecke Geschichte. Hier, wo Simon Bolivar am 6. August 1825 die Unabhängigkeit Boliviens ausrief, wo das Silber aus Potosí über Jahrhunderte von den Spaniern in prachtvolle Kolonialpaläste investiert wurde, wo Che Guevara 1952 auf seiner Südamerika-Rundreise stoppte und 15 Jahre später unweit entfernt ermordet wurde, beginnt unsere Reise durch die Hauptstädte des Landes.
Mit „Zucker“ hat Sucre – bis auf die hier produzierten, hervorragenden Schokoladenspezialitäten – wenig zu tun. 1538 als La Plata („Silber“) gegründet, wurde die Stadt 1825 nach dem Unabhängigkeitskämpfer Antonio José de Sucre benannt, der auch erster Präsident des Landes war. Als ciudad blanca („Weiße Stadt“) war Sucre schon damals bekannt – schneefarbene Gebäude prägen das gesamte Stadtbild wie in kaum einer anderen Metropole Südamerikas Auch die casa de la libertad, in der die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet wurde und wo heute eine drei Meter hohe Bolivar-Statue steht, schimmert gleich gegenüber der Kathedrale strahlend weiß in der Hochlandsonne.
Neben historisch bedeutsamen plazas und iglesias hat Sucre dank diverser Universitäten aber auch eine vorzeigbare Musik- und Clubszene zu bieten. Im Florín verschlingen wir zuerst das Nationalgericht pique a lo macho (einen feurig-scharfem Fleisch-Wurst-Eintopf) bis auf die letzte Chili-Schote, köpfen danach einige Huari-Pils und zelebrieren anschließend die bolivianische Lebensfreude bis spät in die Nacht bei südamerikanischen Elektro-Klängen mit unserer chilenisch-britisch-österreichisch-deutschen carrete-Gang.
~ Titicaca-See: Die Wiege der Inka ~
Wo die Inka-Legende begann, endet unser Bolivien-Trip schließlich. Mitten im Titicaca-See, dem höchstgelegenen schiffbaren Gewässer der Erde an der Grenze zu Peru, liegt mit der „Sonneninsel“ Isla del Sol so etwas wie die Hauptstadt, die Wiege des Urvolkes.
Dem Mythos nach sind die ersten beiden Inka, Manco Cápac und seine Frau Mama Ocllo, hier an einem Felsen zur Erde gelassen worden und die sogenannte Inka-Treppe hinaufgestiegen. Heute traben Esel über den holprigen Steinpfad, der sich vom Inselufer in schwindelerrregende Höhe hinaufwindet. Sein Gepäck muss jeder Besucher jedoch unter Schnappatmung selbst bis ins Hostel auf dem Gipfel tragen, denn auf dem kleinen Eiland gibt es bis heute weder Straßen noch Fahrzeuge – ein Kraftakt auf 3800 Metern Höhe, der sich lohnt.
Ein kleines Motorboot hat uns zuvor von der Hafenstadt Copacabana auf dem bolivianischen Festland in zwei Stunden über den See gebracht, der 14 Mal so groß ist wie der Bodensee und während der Überfahrt gerade aus dem Frühnebel erwacht. Schon aus der Ferne sind die Terrassen auf der Isla del Sol sichtbar, die die indigenen Ureinwohner einst dort anlegten – ein absolut atmosphärisches Panorama.
Die Inka-Tempel, die vor Jahrhunderten auf der Insel gebaut wurden, sind längst verlassen. Steinerne Ruinen zeugen noch von der einstigen Existenz des untergegangenen Volkes. Für uns ist die Wanderung über einen Teil der Insel ein erster Vorgeschmack auf Machu Picchu, die kommende und letzte Station unserer zehnwöchigen Reise.
Doch bevor wir zur Inka-Zitadelle in Zenteral-Peru aufbrechen, schlafen wir für eine Nacht in einer Adobe-Lehm-Hütte auf der bolivianischen Inka-Insel. Mit unvorhergesehenen Folgen für unseren Magen: Wo und wie lange die Köchin unseres Abendessens - zwei Forellen aus dem Hochland-Gewässer - gelagert hat, bleibt ihr Geheimnis. Der Titicaca-See macht in den darauffolgenden Tagen, auf unserem Weg nach Peru, seinem Namen jedenfalls alle Ehre...
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