Donnerstag, 3. März 2011

“Wir leben hier, wir sterben hier”: Silber schürfen in Potosí, der höchsten Stadt der Welt

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Jhonny zündet eine Zigarette an. Sein Overall und sein Helm sind mit Schlamm beschmiert. In seinen Händen hält er einen Becher mit 96-prozentigem Schnaps und eine Tüte Coca-Blätter. Doch der Tabak, der Alkohol und das Coca sind nicht für ihn bestimmt. Nicht diesmal. Der bolivianische Minenarbeiter schüttet den Schnaps über eine steinerne Statue am Eingang der Silbermine von Potosí, die er und seine Kollegen nur El Tío nennen – den Minengott. Auch Jhonnys Zigarette glimmt kurz darauf im Mund der gehörnten Heiligheit. Die außergewöhnliche Opfergabe ist das stete Ritual der Bergmänner beim Betreten der berühmt-berüchtigten Silbermine von Potosí. Sie soll ihnen Glück bringen. Und das können sie gebrauchen, hier, in der höchsten Stadt der Welt…

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Seit mehr als 450 Jahren wird in der südbolivianischen Kolonialhochburg Potosí, 4070 Meter über dem Meer, nach Edelmetall geschürft. Und bis heute sind die Vorhaben an Silber, Zinn und Kupfer am Cerro Rico, dem 1545 von den Spaniern entdeckten „Reichen Berg“, nicht erschöpft. Es heißt, man könne von Potosí zwei Brücken nach Europa bauen. Eine mit dem Silber, das hier über die Jahrhunderte abgebaut wurde. Und eine mit den Knochen der Arbeiter, die in dieser Zeit in der Mine ums Leben kamen.

~ Ein bis zwei Tote pro Tag ~

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Rund acht Millionen mineros sind Schätzungen zufolge seit Beginn der Grabungen an den Folgen oder während ihrer Arbeit gestorben. Täglich kommen ein bis zwei hinzu. Stolleneinbrüche und der ungeschützt eingeatmete Metallstaub gehören zu den häufigsten Todesursachen. Aber auch der ungesicherte Umgang mit Dynamit führt immer wieder zu Unfällen. Mit laienhaft durchgeführten Explosionen sprengen sich die mehreren hundert Minenarbeiter immer tiefer in den Berg hinein – der Cerro Rico gleicht mittlerweile einem chilenischen Mantecoso-Käse. 

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Das Silver bescherte Potosí einst großen Reichtum. Im 17. und 18. Jahrhundert galt die Stadt als wohlhabendste in ganz Lateinamerika. Mit ihrer gigantischen Münzfabrik, der casa de moneda, war sie zeitweise sogar das Zentrum der weltweiten Geldproduktion. Prunkvolle Kolonialbauten im Stadtzentrum zeugen bis heute vom goldenen Zeitalter, das spätestens mit der Verstaatlichung der Minen 1952 ein Ende fand.

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20110303_schlachtbank    20110303_fruchtstand 

Mittlerweile arbeiten Jhonny und die anderen mineros in sogenannten cooperativas, privat organisierten Gesellschaften, deren Mitglieder sich ihre Einkünfte untereinander aufteilen. Wenn sie gut schürfen, verdienen die Bergarbeiter bis zu 6000 Bolivianos pro Monat – rund 650 Euro. In einem der ärmsten Länder Südamerikas kann man damit ganz gut auskommen.

 

~ Schachtbesuch mit Dynamit-Halskette ~

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Heute nimmt Jhonny mich und sieben andere Neugierige mit in sein Revier. Mit Geschenken für die Bergmänner im Rucksack – Coca-Blätter, Pfirsichsaft, Handschuhe und eine Flasche des hochprozentigen Minenwhiskeys zur Aufmunterung – und ausgestattet mit Arbeitsanzug, Gummistiefeln, Helm und Kopflampe klettern wir zwei Stunden lang durch das Minenlabyrinth. 

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Wir sehen, wie jugendliche Arbeiter das Gestein tonnenweise in Waggons aus dem Schacht karren – per Handkraft. Wir bekommen ein Bündel Dynamitstangen um den Hals gehängt, das ein ganzes Haus zum Einsturz bringen könnte. Und wir stehen daneben, als sich die Arbeiter mit einem Presslufthammer tief ins Gestein hinein bohren. 


~ Coca und Schnaps gegen die Strapazen ~


Um die Strapazen ihrer Arbeit durchzustehen, trinken die Männer harten Alkohol, rauchen Kette und kauen Coca. Auch uns bleibt eine Kostprobe dieser Bergmannsmahlzeit nicht verwehrt. Der Schnaps brennt wie Hölle, das Coca wird im Mund zu einem Ball geformt, wo es dann über Stunden hinweg wirken soll. Es heißt, der Saft der Blätter helfe nicht nur gegen die Höhenkrankheit, sondern auch gegen Hunger und Müdigkeit. Die Minenarbeiter schwören darauf: Fast alle von ihnen haben eine dicke, mit Coca-Blättern gefüllte Wange.

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Am bedrückendsten aber sind die Bedingungen, unter denen hier unten rund um die Uhr gearbeitet wird. Bis zu den Knien stehen die beengten Schächte teilweise unter Wasser. Von der Stollendecke tropft farbiger Schlamm auf Jacke und Helm. Die Holzträger in der Grube sind an vielen Stellen bereits gebrochen. Weil sie so niedrig konstruiert sind, kann man sich meist nur bückend vorwärts bewegen. Manche Bereiche sind sogar nur auf allen Vieren, über haarsträubend klapprige Holzleitern oder kletternd durch gerade so schulterbreite Schächte zu erreichen. Und ständig schwebt dichter Metallstaub in die Lungen – er ist im hellen Licht der Helmlampe nur zu gut zu erkennen.



Doch trotz ihres harten, deprimierenden und häufig gefährlichen Alltags sind die meisten Minenarbeiter nicht frustriert. Es scheint, als gingen sie voller Herzblut ihrem Tagwerk nach. Manche, wie der 65-jährige Don Simon, wohnen sogar zeitweise in der Mine, erklärt Jhonny. Zum Beispiel wenn es Ärger zuhause gibt. „Für uns ist es eine Tradition hier zu arbeiten. Und eine große Ehre“, sagt sein Kollege Juan, dessen Zunge und Zähne vom Saft der Coca-Blätter bereits tiefgrün gefärbt sind. Jhonny pflichtet ihm bei: „Wir leben hier, wir sterben hier. Genau so wie unsere Väter und Großväter.“

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