„Se inicia el cierre de puertas“ - die Türen schließen sich. Eingequetscht zwischen glattgebügelten Anzugträgern stehe ich schweißgebadet kurz vor 9 Uhr in der Metro von Santiago und schaue in zerknitterte chilenische Gesichter. Beim Umsteigen an der Station Baquedano rannten die meisten gerade noch im Sprinttempo die Treppen hinauf zum anderen Bahnsteig. Wie Erstklässler am Schulbus zwengten sie sich in den blauen Zug, um einen tellergroßen Stehplatz zu ergattern. Als beim Abfahrtsignal noch der Hintern eines Sonnenbrillenträgers aus der Bahn hängt, drückt ihn ein gelb gekleideter Bahnsteig-Assistent beherzt durch die halb geschlossene Tür. Es ist der ganz normale Wahnsinn jeden Morgen in Santiago, es ist Rush Hour - und es herrscht Krieg.
Mit der Metro-Odyssee beginnt für mich ein ganz normaler Tag in Chiles Hauptstadt. Während die City unter ihrer grauen Smogwolke erwacht, fahre ich mit der Linie 1 zur Arbeit, zu meinem zweimonatigen Praktikum bei Chile Inside, einer Agentur für interkulturelles Management im Stadtteil Providencia. An meinem Arbeitsplatz mit Blick auf das Costanera-Center – die Baustelle zu Chiles und Südamerikas höchstem Gebäude – schreibe ich Reiseführer über lateinamerikanische Länder, übersetze Praktikumsangebote oder denke mir spannende PR-Texte aus. Mein Spanisch wird dabei von Tag zu Tag besser. Der Grundwortschatz „Una cerveza, por favor“ wurde um „Un Pisco Sour, por favor“ erweitert – und die ein oder andere Business-Vokabel.
14 Uhr, eine Stunde Mittagspause. In Südamerika wird spät gegessen, aber dafür reichlich. Zum almuerzo bieten fast alle Restaurants in Santiago ein menu del dia an: Hauptgang inklusive entrada (Vorspeise), postre (Nachtisch) und bebida (Getränk). In meinen Stammlokalen Da´Tito und Corazon Contento kosten die 3-Gänge-Menüs rund 3,50 Euro. Auf den Tisch kommt entweder typisch chilenische cazuela (eine deftige Suppe mit Fleisch, Reis, Mais und Kartoffel) oder bife a lo pobre (Rindsteak „nach Art der Armen“ mit Pommes, Spiegelei und Zwiebeln) - beides lecker.
Am Nachmittag stehen einige Botengänge auf dem Programm. Mit Briefumschlag unter dem Arm laufe ich nach Las Condes, ins Nobel-Viertel Santiagos, wo sich der blaue Himmel in den Glasfassaden der Büropaläste spiegelt, wo Villen, Luxushotels und Bankzentralen vierspurige Alleen säumen. Hier bekommt Santiago ein vollkommen anderes Gesicht als in der heruntergekommenen City. Die Santiaguinos nennen diesen Teil der Stadt „Sanhattan“ – inmitten der Wolkenkratzer ist der Vergleich mit Big Apple tatsächlich nicht so weit hergeholt.
Feierabend, es ist 18 Uhr. Mit dem Bus fahre ich zurück in Richtung Innenstadt – wieder unter vollem Körpereinsatz. Die Brems- und Überholmanöver der potentiell selbstmordgefährdeten Busfahrer lassen Leipziger LVB-Personal als gottgleiche Wesen erscheinen. Nach einer halbstündigen Irrfahrt erreiche ich unsere WG in Bellas Artes am Hauptstadtfluss Rio Mapocho nahe des Parque Forestal , wo Corinna gerade Nudeln mit Tomaten-Gemüse-Würstchen-Sauce kredenzt.
Vielleicht gehen wir später noch in die Shopping-Mall Parque Arauco oder machen carrete im Party-Viertel Bellavista mit unseren beiden deutschen Mitbewohnern Petra und Kevin. Vielleicht schauen wir im CineHoyts einen Film - fast alle laufen hier auf Englisch mit spanischen Untertiteln. Vielleicht trinken wir aber auch einfach nur ein schop (Fassbier) in der urigen Kneipe Elkika Ilmenau. Deutsch-chilenische Tradition wird hier schon seit 1945 gepflegt - gut, da muss ein Schwarzbier reichen.
Ganz sicher aber falle ich irgendwann nach Mitternacht todmüde in mein Bett. Und während draußen auf Santiagos Straßen das tägliche Heulen der Autoalarmanlagen verstummt, schließe ich irgendwann meine Augen: „Se inicia el cierre de ojos.“